Von Wolf E.Schneider

Bild1KarteWikingerDie Wege der Wikinger auf ihren Eroberungszügen und
Handelsexpeditionen.
Quelle: National Geographic; Jari Patanen

 

Sie kommen leise. Im Morgennebel nähern sie sich lautlos der Küste. Wenn der Drachenkopf am Bug des Langschiffes von Land aus zu sehen ist, dann ist es schon zu spät. Die Wikinger sind da. Lindisfarne, Nordostküste Englands AD 793; Paris AD 845; Lissabon AD 844; Sevilla AD 844; Nordafrika AD 859; Dublin AD 919. Sie töten und plündern, sie rauben und brandschatzen. In ganz Europa erzählt man, dass ihre Schiffe wie böse Drachen über Flüsse und Meere fliegen.
Sie wollen die Welt erobern. Sie sind kein Volk und kein einzelner Herrscher kommandiert seine Krieger. Sie rufen ihre heidnischen Götter Odin, Thor und Freya an und bitten um Stärke und Wohlstand. Odin ist für sie der höchste Gott, von ihm erhalten sie die Weisheit und die Kunst des Krieges. Sie sind mutig und stark. Sie sind verwegen und ohne Angst. Sie wissen, dass sie bei ihren Raubzügen sterben werden. Aber sie werden dann mit den Göttern ein Nachleben führen, von den Walküren an Odins Tafel geleitet und mit ihm feiern und heldenhaft kämpfen.  Göttervater Odin hatte aber auch eine treue Verbündete an seiner Seite: Saga, die Göttin der Dichtkunst. Und schon deswegen erzählen seit über 1000 Jahren die Sagen von den großen, den erfolgreichen und den brutalen Taten der Wikinger. Erzählen die Geschichten von fernen Ländern, von Menschen, die die Seefahrer aus dem Norden fürchteten, hassten, liebten und bewunderten.

Seit den 1930er Jahren allerdings, befassen sich Wissenschaftler insbesondere in Dänemark mit den Wikingern. Und sie finden heraus, dass nicht alles sagenhaft ist. Anhand von Grabfunden, Überresten von Wikingerschiffen und zeitgenössischen Schriften können sie heute mit großer Bestimmtheit sagen, dass die Wikinger nicht nur die Eroberer und brutalen Krieger waren: Sie waren auch geniale Bootsbauer und erfolgreiche Händler in einer gewalttätigen Zeit.

Die Geschichte der Wikinger ist auch das Vermächtnis ihrer Seefahrerkunst

Alles beginnt um das Jahr 750 nach Christi in den skandinavischen Dörfern entlang der Wasserwege und Küsten. Aufgrund der Tausende Kilometer langen Küstenlinien ist die Seefahrt schon seit Menschengedenken Teil des kulturellen Erbes. Reiche Fischgründe an der Küste sind die Grundlage vieler Siedlungen. Die Gehöfte der Regionen versorgen sich meist selbst, sind wohlhabend und haben Gebäude für die Großfamilie. Besonders die Küstenbewohner in Norwegen verbinden Fischfang mit Landwirtschaft. Wegen der kurzen Wachstumsperiode und des langen harten Winters ist es notwendig, große Mengen von Lebensmitteln einlagern zu können. Fisch und Robbenfleisch kann man trocknen und einsalzen. Fischöl und weitere Erzeugnisse lagern  in selbstgefertigten Fässern.

Die Wikingerzeit brach nicht über eine isoliert lebende Gruppe von Menschen herein. Aus der großen Bandbreite skandinavischer Landschaften ergaben sich natürliche Siedlungsräume mit unterschiedlichen Lebensweisen. Die Menschen der verschiedenen Regionen gehörten aber zum gleichen kulturellen Umfeld. Auch wenn die Hauptakteure häufig Skandinavier waren, steht der Begriff Wikinger für keine ethnische Gruppe oder nationale Identität, es gab auch slawische und irische Wikinger. Auf Wikingerfahrt ging eine bunt gemischte Gruppe von Menschen, die in jener Zeit in Nordeuropa lebte. „Die Menschen auf den Höfen hätten sich niemals Wikinger genannt“, sagt Ole Crumlin-Pedersen vom Dänischen Nationalmuseum, „sie sagten, mein Jüngster ging letztes Jahr auf Wikingerfahrt, ich habe ihn seither nicht mehr gesehen und vielleicht sehe ich ihn nie wieder“.

Bild4BugOsebergWikinger

 

Der Vorsteven des um 800 gebauten Oseberg-Schiffes ist kunstvoll mit Schlangenmotiven verziert.

Quelle: Museum für Kulturgeschichte Universität Oslo

 

 

Was ist das Geheimnis der Wikingerschiffe?

Die Schiffe der Wikinger wurden nicht in Isolation entwickelt. Sie tauchten im 8. Jahrhundert nicht so einfach aus dem Nichts auf. Die Wikinger perfektionierten vorhergehende Modelle. Schiffe des römischen Imperiums haben sie ebenso beeinflusst wie die Küstenschiffe von den friesischen Inseln. Auf der Grundlage jahrhundertealter Tradition entwickeln Handwerker Schiffe, die den Verlauf der Geschichte entscheidend beeinflussen sollten. Schiffbau war eine Familienangelegenheit. Frauen nutzen ihre großen Webstühle, um den Drachen Flügel zu verleihen, die großen Wollsegel, die den Schiffen so viel Kraft gaben. Auf den meisten großen Höfen gibt es eine Werft. Im Verlauf einiger Monate nimmt ein neues Boot Gestalt an. Die Bauweise ist in einem großen Teil Nordeuropas einheitlich. Nieten halten die Planken zusammen. Diese Nieten sind entscheidend, denn sie verschaffen dem Schiff gleichzeitig Stärke und Flexibilität. In den Wäldern der Wikingerzeit entwickelt sich ein bedeutendes Gewerbe. Erfahrene Bootsbauer suchen nach natürlichen Biegungen im Holz, nach Linien die zur Rumpfform des Bootes passen, das sie gerade bauen wollten. Planken spalten sie aus Baumstämmen, gebogene  Teile schneiden sie aus gebogenen Zweigen. Eiche ist eindeutig das beste Material, Bootsbauer im hohen Norden Skandinaviens müssen sich aber mit Kiefernholz zufrieden geben.

Bild3Klinkerbauweise

 

 

 

 

An dem um 890 n.Chr. gebauten und 1880 gefundenen Gokstad-Schiff lässt sich die Besonderheit der Klinkerbauweise mit überlappenden Planken sehr gut erkennen.

Quelle:  Das Gokstad-Schiff, Museum für Kulturgeschichte Universität Oslo

 

Das Entscheidende an einem Wikingerschiff ist die Art seiner Planken
Zur Gewinnung spaltet man große Baumstämme mit Beilen und Vorschlaghämmern. Aus jedem keilförmigen Stück wird nur eine einzige Planke gewonnen. Im Vergleich mit einer modernen Planke, die aus dem Stamm gesägt wird, sind die Planken der Wikinger extrem haltbar und elastisch. Die Herstellung der drei Zentimeter dicken Planken ist eine sehr anspruchsvolle Arbeit. Die Wikinger verwenden keine Baupläne, sie zimmern ihre Schiffe aus dem Gedächtnis. Das Wissen wird vom Vater auf den Sohn weitergegeben.

Die Wikinger haben die Schiffsgestaltung mit überlappenden Planken, die Klinkerbauweise, perfektioniert.

Das Schiff wird dadurch entlang seiner Achse enorm flexibel. „Sie können sich wie ein Delphin im Meer bewegen“, sagt Ole Crumlin-Pedersen vom Dänischen Nationalmuseum. „Sie bilden keinen starren Klotz, der auf die Wellen hämmert. Das ist das Geheimnis des Wikingerschiffs. Die Klinkerbauweise ist eines der wenigen Elemente, die durch lebendige Tradition über 1000 Jahre überdauert hat,  ein wahres Erbe der Wikinger.“ Moderne Schiffsbauer des Danish Maritime Instituts haben ihre Erkenntnisse aus der Wikingerforschung einem Test unterzogen. Die gleichen Untersuchungen unternimmt man mit modernen Yachten, die an Hochseeregatten oder Olympischen Spielen teilnehmen sollen. Schnell beweist die Klinkerbauweise ihre Qualitäten. „Das Konzept des Wikingerschiffs ähnelt sehr dem von modernen  Hochseeyachten, beispielsweise denen des Volvo Ocean Race“, erläutert Max Vinnerm vom Wikingerschiffmuseum in Dänemark.

Wikinger segelten mit bis zu 25 Knoten

Das Wikingerschiff hat eine geringe Wasserverdrängung, sogar wenn es beladen ist. Es gleitet über die Oberfläche, es kommt zu keinen Reibungsverlusten. Entlang der überlappenden Planken werden Luftblasen unter das Boot gezwungen und bilden eine Art Schmiermittel. Mit einem Segel, das das Boot beinahe aus dem Wasser hebt, erhält man ein vorzügliches Rennfahrzeug. Von Anfang an wurden die Wikingerschiffe dafür gebaut, auf den Wellen zu reiten. Sie segelten oftmals mit einer Geschwindigkeit von bis zu 25 Knoten und waren somit allen anderen Schiffen ihrer Zeit weit überlegen.

Und mit diesen Schiffen verwandelten sich die Küstenbewohner von Fischern und Bauern zu Eroberern und Entdeckern.

Aus archäologischen Grabungen wissen wir, dass es viele verschiedene Schiffstypen gab. Die Flotte der Wikinger war überraschend vielfältig. Jeder Typ war exakt auf die Nutzung ausgelegt, für die er bestimmt war. Es gab kleine Boote zum Fischen, Boote für den Fährbetrieb und Boote für kurze Reisen an den Küsten.

Das Langschiff, das Kriegsschiff der Wikinger, wurde von Segeln und von Ruderriemen angetrieben. 60 bis 80 Mann waren an Bord. Es war das Drachenschiff,  das Schiff, das den Schrecken verbreitete wenn es aus dem Nebel auftauchte, das Schiff, das die Feinde einschüchtern sollte. Das Langschiff beförderte wenig Fracht. Die Mannschaft musste immer für Angriffe bereit sein und genügend Waffen an Bord haben.
Die Knorr dagegen war die Grundlage  für die Expansion des Handels der Wikinger in Europa und darüber hinaus. Das bauchige Lastschiff hatte ein 90 qm großes Segel. Es war der Frachter auf den Handelsrouten der Wikinger. Es transportierte Menschen, Tiere und bis zu 40 Tonnen Fracht, meist untergebracht in transportablen Holzfässern. Trotz ihrer schweren Fracht hatte die Knorr nur einen Tiefgang von 1,50 Metern und konnte auch flache Häfen anlaufen.

 

Bild2 Rundenstein Lärbro

Meisterliche Steinmetze verewigten auf Kalksteintafeln die Expeditionen und Schlachten. Fast immer stellen die Bildsteine Schiffe dar, ein Hinweis auf die Bedeutung der Schiffe für die Wikinger.

Der 2,70 hohe Reliefstein, gefunden in Lärbro auf der schwedischen Insel Gotland,

zeigt eine Kampfszene und darunter das Begräbnis eines Kriegers und seinen Einzug in Walhall. Auf dem unteren Teil des Bildes ist ein Wikingerschiff unter voller Besegelung zu sehen.

Quelle: Museum für Nationale Altertümer, Stockholm

 

In Norddeutschland wurde die Stadt Haithabu (nahe dem heutigen Schleswig) zu einem Machtzentrum der Wikinger. „Es war die erste Stadt“, wie Ute Drews vom Wikingermuseum Haithabu sagt. Eine imposante Stadtmauer schützte die Waren, die in dem Handelszentrum lagerten.  Haithabu war die älteste und größte Stadt in Nordeuropa und brachte vielen ihrer Bürger Reichtum und Macht. Da Wikinger verschiedene ethnische Ursprünge haben konnten, lebten in der Stadt viele Menschen aus verschiedenen Regionen Nordeuropas Seite an Seite. Der Wohlstand der Wikinger gründete nicht auf der passiven Anhäufung von Gold und Silber, sondern auf den Standorten, auf Bündnissen und Verbindungen.  Durch die Kontrolle über den Handel und die Handelswege mit kriegerischen Mitteln gewannen die Wikinger schnell die Oberhand. Eine der wichtigsten Rollen von Haithabu war es, Nord- und Ostsee miteinander zu verbinden. Waren gelangten von der Ostsee kommend in die Stadt, sie wurden 15 Kilometer über Land transportiert und dann auf Flüssen zur Nordsee gebracht. An diesem Knotenpunkt tauschte man Güter aus dem fernen Asien gegen Güter aus dem hohen Norden. Bernstein, Daunen der Eiderente und hochwertige Schleifsteine waren begehrte Handelsobjekte. Die Wikinger beherrschten den Handel mit Fellen und Pelze aus den Wäldern Skandinaviens. Könige und Sultane hüllten sich in Felle und Pelze aus dem Norden. Wikinger tauschten sie gegen Salz und Edelmetalle.

Der Handel florierte. Wikinger aus dem heutigen Schweden überquerten die Ostsee und fuhren das verzweigte Flussnetz des Ostens hinauf. Menschen, die sie trafen, nannten sie die „Russ“. Schnell errichteten sie die Herrschaft über das Land, das noch immer ihren Namen trägt: Russland. Nord- und Ostsee gerieten unter die Vorherrschaft der Wikinger. Doch ihre Schiffe trugen sie weiter. Ins Mittelmeer, über den Atlantik, tief ins Herz von Russland, zum Schwarzen Meer und zum Kaspischen Meer.

Tapferkeit im Kampf und seefahrerisches Können

Stärke und Mut der Wikinger haben großen Eindruck gemacht und gleichzeitig Angst und Schrecken verbreitet. Sie haben mit ihrer großen Kampfkraft große Teile Europas unterjocht und für drei Jahrhunderte den Handel bestimmt. Sie sind nach Osten gesegelt und haben dazu beigetragen, Reiche auf dem europäischen Kontinent zu errichten. Entlang der westlichen Küsten Europas richteten andere Wikinger, die Nordmänner, ihre Augen auf den Horizont und erträumten sich neue Ziele. Sie boten außergewöhnliche Fähigkeiten und großen Mut auf und fanden ferne Küsten, die bisher noch kein Europäer betreten hatte. Sie wagten in arktische Gewässer vorzustoßen, und sie fanden Island und Grönland.

Wohin sie auch fuhren, nach Osten, Westen, Norden oder Süden, es waren die außergewöhnliche Gestaltung ihrer Schiffe und die seemannschaftlichen Fähigkeiten ihrer Kapitäne, die das Vermächtnis der Drachenschiffe im Gedächtnis der Welt überdauern lassen.

Epilog: Der norwegische König Harald griff im Jahr 1050 die Stadt Haithabu an und ließ sie niederbrennen. In den folgenden Jahren wurde sie wiederholt angegriffen und geplündert. Mit diesem Zeitpunkt endete die Schreckensherrschaft und die Erfolgssträhne der Wikinger. Ihre Zeit war abgelaufen.

Wolf E. Schneider

Bild6WikingerKapitän

Illustration: Hal Foster, Gondrom