Mit kräftigen Schüben bugsiert der Gondoliere den knarzenden Holzkahn durch die historischen Kanäle. Unterm Bug das Plätschern des Wassers, in der Luft ein Hauch von Dolce Vita. Millionen Besucher nehmen jedes Jahr die Reise auf, um diesen weltweit einzigartigen Ort einmal mit eigenen Augen zu sehen. Doch auf italienische Gesangskunst des Ruderführers wartet man hier vergeblich. Richtig, wir befinden uns nicht in der blauen Lagune von Venedig, sondern im UNESCO-Biosphärenreservat Spreewald. Brandenburger Mundart anstatt „O sole mio“, doch dafür muss sich hier niemand verstecken.

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Gurkenstand an der Spree bei Lübbenau

„Und daß dem Netze dieser Spreekanäle, nichts von dem Zauber von Venedig fehle“, so beschrieb bereits Theodor Fontane die Flusslandschaft, die sich etwa 100 Kilometer östlich der Bundeshauptstadt erstreckt. Im Sommer 1859 war der Dichter von seinem Wohnort Berlin mit dem Nachtzug nach Lübben gereist, um unter anderem bei einer Kahnfahrt die Reize des Spreewaldes zu erfahren. Bis heute tun ihm das etliche Besucher gleich. Ein reges Treiben prägt das Bild an den vielen kleinen Häfen rund um Lübbenau. Während sich links eine Gruppe sportlicher Kajakfahrer am Kahn vorbeischiebt, legen rechts Ausflügler an einem der zahlreichen Gasthäuser an, die man hier überall entlang der Spree findet. Nur ein paar Kahnschübe weiter werden lokale Spezialitäten feilgeboten, darunter natürlich auch der Klassiker: die Spreewaldgurke. Am Ufer zeugen die vielen historischen, teils reetgedeckten Gutshöfe von der langen Geschichte der Spreewälder. Alles umgeben von dichter Bewaldung und sattem Grün.

Historische Gutshöfe säumen die Ufer

Historische Gutshöfe säumen die Ufer

Lange Geschichte
Zurückzuführen ist die Entstehung dieses skurrilen Biotops auf das Ende der letzten Eiszeit. Mit dem Einsetzen der Gletscherschmelze entstand ein feingliedriges Netz aus kleinen Flüssen, den sogenannten Fließen. Dazwischen erhoben sich durch Ablagerungen kleine Sandinseln. Auf diesen sogenannten Kaupen entstanden im 17. Jahrhundert die ersten modernen Siedlungen. Doch waren die Neuankömmlinge nicht die ersten Spreewald-Bewohner, die sich die Wasserlandschaft mit Elchen, Bären und Wölfen teilten. Bereits im 2. Jahrhundert siedelten hier germanische Stämme, gaben das Gebiet jedoch wieder auf. Im Zuge der großen Völkerwanderung im 6. Jahrhundert waren es dann die Sorben, die sich in der flachen Moorlandschaft mit dichtem Baumbestand aus Kiefern, Birken, Weiden, Eichen, Linden und Erlen niederließen. Noch heute bekennen sich viele Spreewälder zu dieser ethnologischen Minderheit. Unter dem Einfluss der Sorben entwickelte sich die Naturlandschaft im Spreewald zu einer Kulturlandschaft. So wichen viele Wälder landwirtschaftlichen Nutzflächen. Ein Mosaik aus Äckern, Wiesen, Weiden und Hofanlagen wurde fortan Teil des Landschaftsbilds.

Lebensader Wasser
Den Lebensrhythmus der Menschen im Spreewald bestimmt damals wie heute das Wasser. Wer an einem der Fließe wohnt, der besitzt auch einen kleinen Hafen sowie einen Kahn. Dieser ist bis auf wenige Ausnahmen stets handbetrieben. Motoren sind verpönt. Früher dienten die Holzkähne dem Transport der Ernte, die es vom Feld zu holen galt. Und auch heute sind die Kähne ein fester Bestandteil im Leben der Spreewald-Bewohner – und das nicht nur zum Amusement der vielen Touristen. Auf den Kähnen gelangen Kinder in die Schule, Lebensmittel und andere Waren werden über das Wasser angeliefert – selbst die Zustellung der Post erfolgt seit 110 Jahren durch den Postkahn. Denn viele der zu versorgenden 65 Haushalte verfügen über keinen direkten Zugang zum Festland. Daher haben Anwohner ihre Briefkästen häufig direkt am Wasser. So muss der Postzusteller nicht einmal seinen Kahn verlassen, um die Briefe in den Postkasten zu legen.

Oft befinden sich die Briefkästen direkt am Wasser.

Oft befinden sich die Briefkästen direkt am Wasser.

Der Spreewald boomt
Soviel Idyll lockt natürlich vor allem eins an: Touristen. Im vergangenen Jahr strömten fast zwei Millionen Besucher in das UNESCO- Biosphärenreservat, jährlich steigt die Zahl. Damit ist der Spreewald Brandenburgs attraktivstes Urlaubsziel, ein Segen für die strukturschwache Region. Selbst vor der Wende war hier keine Industrie angesiedelt, junge Menschen verschlägt es oft in die Großstadt. Schulen schließen aus Schülermangel. Ein Teufelskreis. Das soll sich mit Hilfe des boomenden Tourismus bald ändern. Der ist nämlich trotz der hohen Besucherzahlen noch ausbaufähig, man bemüht sich besonders, die vielen Tagesgäste zu ermuntern, auch im Spreewald zu übernachten. Das Potenzial, zudem internationale Touristen aus der Hauptstadtregion anzulocken, ist allemal riesig. Ein solches Engagement birgt natürlich auch Gefahren. Auf der einen Seite sind die Spreewälder auf die Besucher angewiesen, manche fürchten sich dennoch vor zu viel Massentourismus. Bettenburgen und All-Inclusive mag man sich hier nur schwer vorstellen.

Auf den Fließen herrscht reges Treiben.

Auf den Fließen herrscht reges Treiben.

Der Spreewald darf nicht sterben
Die viel größere Gefahr, die lauert ohnehin woanders. Denn über der schönen Flusslandschaft schwebt wie ein Damoklesschwert die Verunreinigung des nahen Lausitzer Braunkohletagebaus. Hier wurde das Grundwasser jahrelang zur Förderung der Braunkohle abgesenkt. Mit dem Wiederanstieg des Pegels wurden nun Verwitterungsprodukte in Form von Eisenhydroxid und Sulfat in die Fließgewässer und Seen der Lausitz eingetragen. Eisenhydroxid schwebt in Form kleinster Partikel im Wasser und lagert sich bei geringen Fließgeschwindigkeiten als rostroter Schlamm am Gewässerboden ab. Bei Erhöhung der Strömung werden die Stoffe wieder mitgeschwemmt und flussabwärts verlagert. So bewegt sich die braune Flut Stück für Stück auf den Spreewald zu. Und dennoch: Täglich wird die Spree und umliegende Gewässer mit mehreren Tonnen braunen Eisenhydroxid-Schlamms verunreinigt. Flussfauna und Flora vergiften. Was übrig bleibt, hat mit der blauen Lagune nur noch wenig gemein. Das rötlich-braune Wasser, das zur lebensfeindlichen Umgebung für die 18.000 Tier- und Pflanzenarten des Spreewalds werden könnte, ist im nur 30 Kilometer südlich gelegenen Promnitz bereits ein gewohnter Anblick. Jüngst schlugen sogar die Berliner Wasserbetriebe Alarm, das Berliner Trinkwasser sei in Gefahr. Umweltschützer fordern daher einen sofortigen Stopp des Braunkohletagebaus in der Lausitz. Zum Unmut des Energiekonzerns Vattenfall. Der würde nur all zu gerne die restlichen 1,3 Milliarden Tonnen Kohle fördern, die sich noch im Brandenburger Boden befinden.

Eisenhydroxid-Verunreinigungen in der Spree bei Premnitz

Eisenhydroxid-Verunreinigungen in der Spree bei Premnitz. (Foto: Julian Nitzsche, CC-BY-SA 3.0)

Quo vadis?
So kann man nur an den Verstand der Politiker appellieren, dass diese Landschaft, die nicht erst seit Theodor Fontane die Menschen verzaubert, am Leben bleibt. Mit einem nachhaltigen Tourismuskonzept und hohen Umweltschutzstandards. Denn was den Spreewald besonders macht, ist seine Naturverbundenheit. Hier bedarf es außer dem gelegentlichen markanten Spruch des Kahnführers keiner Animation. Wer sich einfach auf den Fließen treiben lässt, die Herzlichkeit der Einheimischen genießt, der braucht kein Dolce Vita und ‚O sole mio‘. Eine Spreewaldgurke genügt.

Von Wolf-Alexander Schneider